Helmut Schmidt zur Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten

Es ist Zeit, über Verantwortlichkeiten
des Menschen zu reden.
Helmut Schmidt, 1997

Der Ehrenvorsitzende des InterAction Council Altkanzler Helmut Schmidt
zur Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten

Der Ruf des InterAction Council nach einer universellen Deklaration von Menschenpflichten – im Sinne von Verantwortlichkeiten – kommt zur rechten Zeit. Obwohl wir traditionell von Menschrechten sprechen – und in der Tat hat die Welt, was die Anerkennung und den Schutz von Menschenrechten angeht, einen langen Weg zurück gelegt seit die allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 von den Vereinigten Nationen verabschiedet haben –, ist es jetzt an der Zeit, ein ebenso wichtiges Bestreben nach einer Akzeptanz von Menschenpflichten oder -verpflichtungen zu initiieren.

Diese Betonung der Verpflichtungen des Menschen ist aus mehreren Gründen notwendig. Natürlich ist diese Idee nur in einigen Regionen der Welt etwas Neues; viele Gesellschaften haben menschliche Beziehungen schon traditionell als eher im Sinne von Verpflichtungen und weniger von Rechten verstanden. Dies trifft im Allgemeinen beispielsweise auf einen Großteil östlichen Gedankenguts zu. Während im Westen, zumindest seit der Aufklärung ab dem 17. Jahrhundert, traditionell die Konzepte der Freiheit und Individualität im Vordergrund stehen, ist im Osten der Grundgedanke der Verantwortung und Gemeinschaft vorherrschend. Die Tatsache, dass eine Allgemeine Erklärung der Menschenrecht statt einer Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten formuliert wurde, spiegelt zweifellos den philosophischen und kulturellen Hintergrund der Initiatoren wider, die bekanntlich die westlichen Mächte repräsentierten, die siegreich aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen.

Das Konzept der Verpflichtungen des Menschen dient auch dazu, die Grundgedanken der Freiheit und Verantwortung auszubalancieren/auszugleichen: Während Rechte sich mehr auf Freiheit beziehen, werden Verpflichtungen mit Verantwortung verbunden. Trotz dieser Unterscheidung sind Freiheit und Verantwortlich von einander abhängig. Verantwortung, als moralischer Wert, dient als natürliche, freiwillige Prüfung/Hinterfragung/Bremse von Freiheit. In jeder Gesellschaft kann Freiheit nie ohne Grenzen gelebt werden. Daher ist es so, dass je mehr Freiheit wir genießen, desto größere Verantwortung tragen wir, gegenüber anderen wie gegenüber uns selbst. Je mehr Talente wir haben, desto größer unsere Verantwortung, sie so weit wie möglich zu entwickeln. Wir müssen uns wegbewegen von der Freiheit der Indifferenz hin zur Freiheit der Involvierung.

Das Gegenteil ist ebenso wahr: Je mehr wir unseren Sinn für Verantwortung entwickeln, desto mehr steigern wir unsere innere Freiheit, indem wir unsere Moral (unseren Charakter) stärken. Wenn die Freiheit uns verschiedene Handlungsmöglichkeiten bietet, einschließlich der Wahl, Gutes oder Schlechtes zu tun, wird ein von Verantwortungssinn geprägter Charakter sicherstellen, dass Ersteres obsiegt.

Leider wird dieses Verhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung nicht immer klar verstanden. Einige Ideologien legen größeren Wert auf das Konzept der individuellen Freiheit, während sich andere auf eine bedingungslose Verpflichtung gegenüber der sozialen Gruppe konzentrieren.

Ohne eine angemessene Balance ist uneingeschränkte Freiheit genau so gefährlich wie erzwungene soziale Verantwortung.
Großes soziales Unrecht ist schon aus extremer ökonomischer Freiheit und kapitalistischer Gier erwachsen, während gleichzeitig die grausame Unterdrückung von grundlegenden Freiheiten im Namen der Interessen einer Gesellschaft oder kommunistischer Ideale gerechtfertigt wurden.

Beide Extreme sind problematisch. Zurzeit, mit dem Schwinden des Ost-West-Konfliktes und dem Ende des Kalten Kriegs, scheint die Menscheit dem erwünschten Ausgleich zwischen Freiheit und Verantwortung näher zu sein. Wir haben für Freiheit und Rechte gekämpft. Nun ist es an der Zeit, Verantwortung und Verpflichtungen des Menschen zu fördern.

Der InterAction Council ist der Überzeugung, dass die Globalisierung der Weltwirtschaft in gleichem Maße eine Globalisierung der Probleme der Welt mit sich bringt. Da die globale Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) erfordert, dass wir miteinander in Harmonie leben, benötigen Menschen Regeln und Einschränkungen. Moral/Ethik sind die Mindestanforderung, die ein gemeinschaftliches Leben möglich macht. Ohne Moral/Ethik und daraus resultierender Selbsteinschränkung würde die Menschheit auf ein Überleben des Stärksten oder am besten Angepassten zurückfallen. Die Welt benötigt ein ethisches Fundament, auf dem sie stehen kann.

Diesen Bedarf erkennend, begann der InterAction Council bei einem Treffen von geistlichen und politischen Führungspersonen im März 1987 bei der La Civiltà Cattolica (eine von Jesuiten herausgegebene Zeitung) in Rom seine Suche nach allgemeingültigen ethischen Standards. Im Jahr 1996 erbat der Council einen Bericht von einer hochkarätigen Experengruppe zum Thema globaler ethischen Standards. Bei einer Plenarsitzung in Vancouver im Mai 1996 begrüßte der Council den Bericht dieser Gruppe, die aus religiösen Führern verschiedener Glaubensrichtungen und Experten aus der ganzen Welt bestand. Die Erkenntnisse dieses Berichts mit dem Titel „In Search of Global Ethical Standards“ (Auf der Suche nach globalen ethischen Standards) verdeutlichten, dass die Glaubensrichtungen der Welt Vieles gemeinsam haben, und der Council sprach die Empfehlung aus, dass „im Jahr 1998, dem 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die Vereinigten Nationen tagen sollte, um eine Erklärung von Menschenverpflichtungen zu diskutieren/erwägen, zur Ergänzung der schon geleisteten wichtigen Arbeit hinsichtlich der Rechte.“ Die Initiative, eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten/-verantwortlichkeiten zu entwerfen, ist nicht nur ein Weg, eine Balance zwischen Freiheit und Verantwortung herzustellen, sondern auch ein Mittel, Ideologien und politische Sichtweisen in Einklang zu bringen, die in der Vergangenheit als antagonistisch/widerstreitend erachtet wurden. Die grundlegende Prämisse sollte also sein, dass Menschen die größtmögliche Freiheit verdienen, aber auch ihren Verantwortungssinn so weit wie möglich entwickeln sollten, um mit ihrer Freiheit richtig umzugehen.

Dies ist kaum ein neuer Gedanke. Über die Jahrtausende hinweg haben Propheten, Heilige und Weise an die Menschheit appelliert, ihre Verantwortlichkeiten ernst zu nehmen.
In unserem (20.) Jahrhundert, beispielsweise, predigte Mahatma Gandhi über die sieben sozialen Sünden:

1. Politik ohne Prinzipien
2. Handel/Geschäft ohne Moral
3. Wohlstand ohne Arbeit
4. Bildung ohne Character
5. Wissenschaft ohne Menschlichkeit
6. Genuss ohne Gewissen
7. Religion ohne Opferbereitschaft

Die Globalisierung hat der Lehre Ghandis und anderer ethischen Führer jedoch eine neue Dringlichkeit verliehen. Gewalt auf unseren Fernsehbildschirmen wird heutzutage von Satelliten in die ganze Welt übertragen. Spekulationen in weit entrückten Finanzmärkten können lokale Gemeinschaften zerstören. Der Einfluss privater Industriemagnen nähert sich der Macht von Regierungen, und, anders als bei gewählten Politikern, gibt es für diese private Macht kein Zur-Rechenschaft-Ziehen, sondern nur den eigenen Verantwortungssinn. Nie hat die Welt eine Erklärung von Verantwortlichkeiten mehr benötigt als jetzt.

Helmut Schmidt, 1997

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